Konzept Aufklärung Korntal

Dr. Brigitte Baums-Stammberger – Prof. Dr. Benno Hafeneger

„Aufklärung Korntal“

A) Erhebung Korntal, Vorarbeit für die Vergabe von freiwilligen Anerkennungsleistungen

Die Interviews mit allen Opfern und Betroffenen (siehe hierzu B.1.) werden individuell so dokumentiert und auf Plausibilität geprüft, dass diese Unterlagen einer zu bildenden Vergabekommission als wesentliche Entscheidungsgrundlage für die freiwilligen Anerkennungsleistungen dienen können.

Die Dokumente werden verschlossen, vertraulich und direkt dem unabhängigen Vorsitzenden/Verantwortlichen/Leitenden einer solchen Kommission allein zu diesem Zweck überreicht.

Die Interviewerin wird voraussichtlich als ein Mitglied in diese Kommission berufen.

B) Untersuchung Korntal, Aufklärungsbericht

Die „Untersuchung Korntal“  umfasst zwei Schwerpunkte und wird mit Empfehlungen abgeschlossen; der Untersuchungszeitraum bezieht sich auf die Jahre 1945 bis in die 1980er Jahre.

  1. Interviews mit Betroffenen – Opfern von Gewalt und sexuellem Missbrauch (Betroffenenperspektive)
  2. Träger-/Institutionenanalyse (Stichwort: „institutionelles Versagen“ – historische und pädagogische Perspektive), sowie deren sozial/-erziehungswissenschaftliche Analyse und Einbettung in Erkenntnisse aus Untersuchungen der letzten Jahre

 

  1. Zu den Interviews mit den Betroffenen

 

Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Betroffenen-/Opferperspektive – der Blick auf die Opfer.

Die Betroffenen können die Aufklärerin über die besondere Email-Adresse zu bestimmten Sprechzeiten telefonisch und postalisch über ein Postfach erreichen. In den Medien sind Aufrufe mit der Bitte um Meldung Betroffener (gerne auch nichtbetroffene Ehemalige) erfolgt.

Die Interviews werden persönlich von der Aufklärerin geführt. Sie finden in einem Besprechungsraum in einem Stuttgarter Hotel statt. Wenn die Betroffenen die Anreise nicht machen können, fährt die Aufklärerin auch an ihren Wohnort.

Die Betroffenen werden gebeten, ein Ausweisdokument zum Interview mitzubringen.

Das Interview verläuft wie folgt.

Zunächst stellt sich die Aufklärerin vor und erläutert ihre Arbeit. Sie erklärt, welchen Zwecken die Interviews dienen, nämlich der unparteiischen Aufklärung und Dokumentation der Vorkommnisse in den Heimen, der Aufarbeitung der Geschehnisse und der Vorbereitung einer freiwilligen Anerkennungsleistung durch die Evangelische Brüdergemeinde.

Dann werden die Heimzeiten und die Verhältnisse in der Herkunftsfamilie abgefragt. Es folgt dann das Wichtigste: Die Schilderung durch den Betroffenen, ggfls. Nachfragen und ergänzende Frasgen durch die Aufklärerin. Ebenso sind die Folgen für die Betroffenen darzustellen.

Am Ende des Gesprächs sollen die Interviewten gefragt werden, ob als Folge des Gesprächs der Wunsch entstanden ist, mit einem Therapeuten zu sprechen. Dann könnte der Interviewer die Kontaktdaten des hierfür bereitstehenden Therapeuten weitergeben. Der Interviewte kann die Kontaktdaten des Therapeuten, falls nötig, auch noch nachträglich erhalten, wenn er sich in der Folge bei der aufklärenden Person meldet.

Ein persönliches Gespräch ist für eine seriöse Aufklärung unabdingbar:

Nach jedem Interview ist eine Analyse des Gespräches erforderlich. Es muss ein Datenabgleich (Zeit und Ort) und ein Vergleich der Schilderungen mit den Schilderungen der anderen Betroffenen erfolgen („passen Tatmuster, Täter, Orte?“). Weitere Daten können abgeglichen werden, z.B. in Plänen und den Heimakten.

Die Körpersprache des Betroffenen ist für einen erfahrenen Interviewer (in diesem Fall eine ehemalige Richterin) ein wichtiger Hinweis für Authentizität und Wahrhaftigkeit der Aussagen. Ferner ist jede Aussage auf ihre Konstanz und die Motivlage zu überprüfen. Evtl. Trittbrettfahrer können beim persönlichen Gespräch durch diese Prüfung eher festgelegt werden.

Schließlich ist darzustellen, wie Vorgesetzte auf die Vorfälle, wenn sie denn bekannt geworden sind, reagiert haben. Diese Reaktionen sind rechtlich einzuordnen. Die Frage, warum die Vorfälle möglicherweise nicht vorgesetzten Stellen bekannt geworden sind, ist, wenn möglich, zu klären.

Über jedes Gespräch erstellt die Aufklärerin einen kurzen oder längeren Bericht, der Grundlage für die Entscheidung der Vergabekommission wird. Die Vergabekommission kann aber auch die im Einverständnis mit den Betroffenen aufgenommenen Interviews anhören.

Bis zum 9.11.2017 haben insgesamt 72 Gespräche stattgefunden, weitere knapp 20 sind bereits terminiert.

  1. Die Träger- und Institutionenanalyse

Die Träger- und Institutionenanalyse der Einrichtung untersucht Aspekte bzw. Dimensionen, die das „Versagen“, deren Mechanismen und Implikationen aufklären helfen. Dies bezieht sich auf den Blick auf die Einrichtung (Heime) in ihrem „Binnenleben“ und auf die Verbindung mit der „Außenwelt“ (Träger, Kriche, staatl. Stellen) als „totale Institution“.

Dabei ist die zentrale Frage:

Wie waren die Gewaltformen und Missbrauchsvorfälle (hinter den Mauern der Institution) überhaupt möglich und warum konnten sie nicht verhindert werden?

Im Einzelnen geht es um „interne“ und „externe“ Aspekte und Faktoren wie:

  • Rechtsform, Struktur und Hierarchie, Abläufe, Verantwortung und Kontrolle, dann Personal, Profession, Qualifikation und Rekrutierung des Betreuungspersonals in den Heimen.
  • Pädagogisches/erzieherisches Selbstverständnis, Konzepte, Leitlinien und Profil, Bestrafungs- und Unterwerfungspädagogik, Erziehung durch Strafe als unhinterfragtes Selbstverständlichkeit; dann auch um christlich – religiöse Begründung … evangelische Eigenwelt – Religion – Bibel (Legitimation von Gewalt);
  • Tagesablauf/Totalkontrolle/schwarze Pädagogik als Normalität des Alltags – verbunden mit Entzug von Privatheit, Rückzug und Intimität;
  • Kinder waren Objekt der Erziehung, der Gewalt … das Kinderbild der Einrichtung
  • Innerinstitutionelles Gewaltklima, wie verliefen Kommunikation und Information, wie war die Gesprächskultur (Themen) in der Einrichtung und mit der Außenwelt (Träger, Kirche);
  • Klima und Mechanismen des Ignorierens, Vertuschens, Beschweigens, Tolerierens, des Normalisierens…
  • Außenkontakte mit der/Isolation von der Außenwelt;
  • Erwartungen an die Institution: von Seiten des Heimes, des Trägers, der Eltern…

Dann in Verbindung mit den Interviews und mit Blick in das Aktenmaterial

  • Hinweise zu Gewalt und Gewaltformen, speziell zu Formen des sexuellen Missbrauchs
  • Hinweise zu Tätern,
  • Hinweise zum institutionellen Umgang und zu Tätern.

Das methodische Vorgehen bezieht sich auf die Erschließung von Quellen:

  • Aktenanalyse (schriftliche Materialien) des Trägers („was steht in den Akten?“).
  • Interviews mit Verantwortlichen, Zuständigen, Personal – Ihre Erfahrungen, Sicht, Deutungen („wer wusste was?“)

Das Ganze erfolgt in einer Zeitlinie ab 1945 und muss möglicherweise zeitlich sequenzialisiert werden – mit Blick auf Traditionen, Personalwechsel, päd. Leitlinien, Strukturveränderungen, dokumentierte Vorfälle.

Die Fallstudie wird konfrontiert mit bzw. eingeordnet in Erkenntnisse aus Studien, die in den letzten Jahren entstanden sind und die herrschende („schwarze“) Pädagogik aufklären. Korntal steht in einer langen Liste mit u.a. dem Kloster Ettal, dem Canisius Kolleg, der Odenwaldschule, Regensburger Domspatzen, Helene-Lange Schule, Elly-Heuss-Knapp-Schule; zu verweisen ist auf die Berichte des „Runden Tisches Heimerziehung“ bei der Bundesregierung.

  1. Abschluss

Der Abschlussbericht hat seitens des Aufklärers eine vollständige und objektive Darstellung des gesammelten Datenmaterials zum Inhalt. Vorfälle, Orte und Zeiten, die Art der Gewalt und die Täter sind zu benennen. Die Einordnung der Motive und die Darstellung des institutionellen Versagens ist Aufgabe des sozialwissenschaftlichen Teils des Berichts, soweit es sich nicht schon aus der Darstellung der Umstände der Taten ergibt.

Die Taten sind einzuordnen in psychische Gewalt/körperliche Gewalt und sexuelle Gewalt. Intensität und Häufigkeit sind darzustellen und schließlich sind die Vorfälle juristisch einzuordnen.

Vorbehaltlich des Umfangs der Interviews und des Materials aus den Archiven wird die Untersuchung umfangreich. Der größere Teil bezieht sich auf die Auswertung der Interviews mit den Betroffenen/Opfern. Sie soll computergestützt nach dem sozialwissenschaftlichen Auswertungsverfahren MAXQDA im Jahre 2018 abgeschlossen sein. Der Bericht wird abgeschlossen mit Empfehlungen zur Prävention.

C) Vergabekommission für die Festsetzung der Anerkennungsleistungen

Die Vergabekommission setzt sich aus drei unabhängigen Fachleuten aus den  Bereichen Recht, Sozialwesen, Erziehungswissenschaften  und Psychotherapie zusammen. Diese Personen sollen aufgrund der von der Aufklärerin erstellten Berichte Anerkennungsleistungen für die Betroffenen festsetzen, die bei der Aufklärerin einen Antragt hierfür gestellt haben. Die Anerkennungsleistungen werden für erlittene physische, psychische und sexuelle Gewalt gewährt und betragen im Regelfall bei diesen Verletzungen 5000,00 Euro. In Ausnahmefällen können bis zu 20.000,00 Euro bewilligt werden. Diese Leistungen sind, da alle Vorfälle rechtlich verjährt sind, freiwillige Leistungen der Evangelischen Brüdergemeinde, weshalb sie auch nicht angefochten werden können. Sie erfolgen ohne Anerkennung einer Rechtspflicht.

Die Auszahlung erfolgt nach Beendigung und Sichtung aller Anträge.